Neue Sakralität? Köln, Kirchen und Klangexperimente
von Friedemann Dupelius
Kölle ohne Dom ist unvorstellbar. Kirchen prägen unsere Städte seit vielen Jahrhunderten. Und doch läuft ihnen das Publikum davon. Vielleicht nicht dem Dom, aber die Tendenz ist klar: Immer mehr Kirchen in Deutschland stehen leer. In NRW werden es bald rund 30% sein. Doch es gibt bereits eine gegenläufige Bewegung: Musiker*innen und Klangkünstler*innen entdecken Kirchenräume für sich und füllen sie mit neuen Sounds. Ambient-Konzerte, Klanginstallationen, elektronische Musik und Orgel-Experimente haben in Kirchen seit einigen Jahren Konjunktur. Und das nicht nur in Köln, auch in anderen Städten und Ländern lässt sich dieser Trend beobachten. Zugleich greifen Musiker*innen aus verschiedenen Genres Klangästhetiken auf, die auf eine Weise „sakral“ oder „spirituell“ wirken, ohne explizit religiös zu sein. Und das Publikum dafür wächst. Was sagt das über die Künstler*innen, ihre Hörer*innen, aber auch über die Gesellschaft aus? Welche individuellen und kollektiven Bedürfnisse stecken hinter diesen Entwicklungen?
„Gemeinschaft ist, was Kirche ausmacht. Und genau das bröckelt gerade sehr“, beobachtet Dietmar Saxler. Der Kurator richtet seit 2005 das Festival „Zivilisation der Liebe“ in der Kölner Kirche St. Aposteln aus. „Entleerte Kirchen sind aber trotz allem nicht sinnentleert. Da ist für mich eher der Freiraum, der jetzt entsteht – eine Riesenchance für elektronische Musik!“
Mit dem Festivalnamen „Zivilisation der Liebe“ beruft sich Dietmar Saxler auf Papst Johannes Paul II. Saxler sieht in der temporären Zusammenkunft von Menschen, die Musik in einer Kirche hören, ein spirituelles Moment: „Das ist eher eine Kultur des Respekts dem Anderen gegenüber: Liebe im Sinne von Nächstenliebe, im Sinne von christliche Caritas. Es geht nicht um das Ego, sondern im weitesten Sinne um Verbundenheit. Was verbindet Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Sprache, sexueller Orientierung? Was ist der Kern des Menschseins?“
„Zivilisation der Liebe“ präsentiert jedes Jahr ein breites Spektrum an Ambient-Musik – Musik also, die ruhig, getragen oder schwebend wirkt. Solche Klänge in dem großen romanischen Kirchenschiff von St. Aposteln zu inszenieren, ist für Saxler nur folgerichtig. „Per Definition ist Ambient ja Umgebungsmusik. Daher glaube ich, dass es perfekt in Kirchenräume passt. So wie die herkömmliche Kirchenmusik den Gottesdienst unterstützt, kann auch Ambient ein Zugang für Leute sein, die einfach nur offen sind für Spiritualität und Transzendenz, ohne dass sie genauer religiös begründet wäre. Elektronische Musik ist für mich eine post-säkulare Weiterführung von Kirchenmusik.“
Seit 17 Jahren existiert „Zivilisation der Liebe“ und lässt sich als ein Vorreiter für ähnliche zeitgenössische Projekte verstehen. Wenn Avantgarde auf Tradition prallt, geht das meist nicht geräuschlos vonstatten. Dietmar Saxler weiß noch genau: „Im ersten Jahr wollten einige Gläubige die Kirche neu weihen, da sich ja junge Leute vor dem Altar rumgefläzt hätten. So im Sinne von: 'Herr Pfarrer, wie können Sie das erlauben?'“ Im Frühjahr 2023 kuratierte Dietmar Saxler gemeinsam mit Waltraud Blischke eine neue Reihe an einem neuen Ort: Die „Ambient Chapel“ in Neu St. Alban, am Rande des Kölner Stadtgartens, zeigte mit Acts wie James Ferraro, Jessica Ekomane oder der Kölnerin Echo Ho, dass auch ein Kirchengebäude aus den 1950er-Jahren als Ort kontemplativer Musikexperimente taugt.
Nicht jedes Gotteshaus darf über Jahrhunderte stehen bleiben wie der Dom. Auch die Beton-Kirche St. Gertrud steht erst seit rund 60 Jahren auf dem Asphalt in der Krefelder Straße. Der brutalistische Bau von Gottfried Böhm ist einer der zentralen Kölner Orte für spannende zeitgemäße Musik in sakralem Ambiente. Wichtige Impulse dazu liefert seit Herbst 2022 das Kollektiv Brutalism. Ursprünglich und immer noch in der Kölner Clubszene aktiv, lädt es Musiker*innen wie Puce Mary, Flora Yin-Wong, Abdullah Miniawy oder Malibu nach Köln ein und bringt damit ein gewisses Flair von Festivals wie CTM oder Berlin Atonal an den Rhein – tauscht allerdings Berliner Industriecharme gegen den Geist brutalistischer Kirchenarchitektur. Der Sprung aus dem Club nach St. Gertrud war für Brutalism kein weiter, wie die DJs, Musiker und Veranstalter Marlon und Lomi erzählen: „Wir setzen einen Fokus auf die materiellen Eigenschaften von Sound und auf das Zusammenspiel von Musik und Raum. Das tut repetitiver Techno im Club genauso wie experimentelle Elektronik in der Kirche. Der Raum von St. Gertrud beeinflusst die Musik maßgeblich. Mit dem zwölfsekündigen Nachhall wird der Raum selbst zu einem Instrument, mit dem die Musiker*innen interagieren müssen.“ Das Publikum ist bei den Konzerten nicht an die Kirchenbank gefesselt, sondern hat die Freiheit, sich im Raum zu bewegen, sich hinzulegen oder zu setzen. „Die Leute sollen den Raum selbst akustisch erforschen. Sie sind aktiver Teil der Musik und eines immersiven Erlebnisses.“
Bei allen Gegensätzen an der Oberfläche: Rave-Nächte und Gottesdienste befriedigen mitunter ganz ähnliche Bedürfnisse. Viele Menschen suchen nach Gemeinschaft, Sinn und Transzendenz. Veranstaltungen wie die von Brutalism, Zivilisation der Liebe oder die Ambient Chapel treffen keine klaren religiösen Aussagen. Sie nutzen die Symbiose von Raum und Klang, um gemeinschaftliche, sinnliche Erfahrungen zu schaffen. Doch liegen dahinter nicht auch gesellschaftliche Bedürfnisse? Haben die Krisen der letzten Jahre eine verstärkte Suche nach Sinn und Spiritualität veranlasst? Zieht es deshalb auch nicht-religiöse Menschen in die Kirchen, um sich gemeinsam in hallige Musik einzuhüllen?
Der Kölner Trompeter und Komponist Luis Weiß stellt fest: „Es gibt so ein Ruhebedürfnis bei vielen Menschen. Und Kirchen stellen das ganz intuitiv bereit. Ich kann da hingehen und dann ist einfach mal Ruhe. Ich glaube, jeder ist derzeit irgendwo auf Sinnsuche.“
Mit seinem Projekt Sonokollektiv bespielen auch Luis Weiß und seine Kolleg*innen brutalistische Kirchen in NRW. So verabschiedeten sie etwa die Kirche St. Hildegard in der Au in Köln-Nippes mit einer Performance, bevor sie wenig später abgerissen werden sollte.
Der Frage, was Kirchenräume so attraktiv für dieses ruhe- und sinnsuchende Publikum macht, nähert sich Luis Weiß von zwei Richtungen. „Erstmal ist da die Akustik. Kirchen haben meistens einen langen Nachhall. Das ist klingt nicht nur ein bisschen netter oder schöner, sondern einfach ganz anders! Und dann ist da die Atmosphäre, wobei ich das katholische Verständnis ganz hilfreich finde: Katholisch gesehen ist Kirchenraum ein heiliger Ort – ein Ort, wo alles anders ist. Zwar wohnt Gott hier nicht, aber dieser Ort fördert eine Haltung, in der ich Gott begegnen kann. Da hat Kirche ein totales Pfund. In der säkularen Welt, wo sich die Dinge ja bis in den letzten Winkel verzwecken und kommerzialisieren, ist Kirche zweckfrei. Und das geht wiederum gut mit künstlerischem Arbeiten zusammen, denn Kunst will ja auch zweckfrei und nicht kommerziell sein.“ Luis Weiß ist selbst gläubiger Katholik und verbindet Psalmentexte und alte gregorianische Melodien mit heutigen elektronischen Sounds. Er sieht die Kirche derzeit in einer Phase des Umbruchs: „Ich glaube, wenn das Christliche anders verpackt würde, wenn sich mehr Leute damit ernsthaft künstlerisch auseinandersetzen würden, wäre es in der Gesellschaft auch besser akzeptiert.“
Die christliche Religion hat in säkularisierten Gesellschaften immer weniger Bedeutung. Parallel dazu durchdringt neoliberale Marktlogik Arbeitswelt und Alltag. Und zugleich wenden sich immer mehr Menschen ursprünglich spirtituellen Praktiken wie Yoga oder Meditation zu. Die US-amerikanische Musikerin Annie Garlid, die u.a. auch in Köln studiert hat, setzte die Renaissance neo-spiritueller Experimentalmusik 2020 in einem Essay in den Kontext von Trendzyklen. Wie in der Mode kehrten auch in der Musik alle rund 30 Jahre Phänomene der Vergangenheit im neuen Gewand wieder. Stimmt ja auch: New Age und dessen Ästhetik war schon in den 80er-Jahren ein Hype. Heute sind Selfcare und Achtsamkeit in – und selbst längst zum kapitalistischen Geschäftsmodell geworden. Hat inmitten multipler Krisen eine neue kollektive Sinnsuche begonnen? Zieht es nicht-religiöse Menschen auch deshalb in die Kirchen? Hören sie deshalb langsame, schwebende Musik mit engelsgleichen Klängen?
Für Pater Stephan Kessler von der Jesuitengemeinde St. Peter sind die aktuellen Suchbewegungen nach Sinn diffus, oder wie er es gerne formuliert: schaumig. „Ich nehme die intensive Suche nach dem Spirituellen sehr deutlich wahr, bin dabei aber skeptisch, denn sie ist oft von lebenspraktischen, politischen, sozialen und auch kirchlichen Verhältnissen und Verantwortungen losgelöst.“
Was ist eigentlich gemeint, wenn man von Spiritualität spricht? Ist der Begriff eine Möglichkeit, eine genauere Festlegung, oder gar ein Bekenntnis zu einer Religion zu umschiffen? Pater Kessler sagt: „Das Wort Spiritualität stammt aus dem Jahr 1904 und ist vor allem in den gnostischen, also den nicht festzulegenden Milieus angesiedelt. Wir alle haben ein spirituelles Bedürfnis. Wir können nicht nur rational und emotional erfüllt sein. Wir alle sind auch Geistwesen. Der spiritus lebt in uns und auch der sucht eine Antwort. Diese Leerstelle kann man nicht nur materiell, intellektuell oder artifiziell, also künstlerisch füllen.“ Als Pater an St. Peter ist Stephan Kessler auch eng im Kontakt mit zeitgenösisscher Musik und Kunst. Als Kunststation St. Peter ist die spätgotisch-romanische Kirche seit über 30 Jahren ein Ort, in dem neue Musik ganz selbstverständlich im Gottesdienst erklingt.
Mit ihrem offenen künstlerischen Ansatz ist die Kunststation auf gewisse Art Vorreiterin der aktuellen Entwicklungen. Auch jüngere Kölner Musiker*innen spielen gerne hier, zum Beispiel die Geigerin Akiko Ahrendt: „Immer wenn ich in St. Peter bin, kriege ich Lust, Musik zu machen. Der Raum ist schön und minimalistisch, der glattgestrichene Beton – ich glaube, das mögen viele. Wie in vielen Kirchen ist auch hier die Akustik total gut. In St. Peter ist das aber nochmal besonders, denn hier ist die Musik sehr willkommen, für die ich mich im Laufe meiner Musikerinnen-Karriere entschieden habe. Das ist ja nicht in allen Kirchen so.“
Auch die Organistin Annie Bloch sitzt regelmäßig an den Manualen der hochmodernen, elektronisch steuerbaren Orgel. Sie erzählt, dass sie sich lange allein mit ihrem Wunsch gefühlt hat, andere Dinge mit der Orgel zu machen. „Jedes Mal, wenn ich Leute kennen lerne, die auch andere Wege jenseits der klassischen beschreiten, freue ich mich und frage mich zugleich, welches Publikum sie damit in die Kirchen ziehen.“ Auch wenn Annie Bloch neue Orgelmusik spielt, ob alleine oder in Gruppen wie dem „Sonokollektiv“ von Luis Weiß, kommt ein gemischtes Publikum. Oft sind es jüngere Leute und solche, die für gewöhnlich nicht in den Gottesdienst gehen. Ihre Herangehensweise an die Orgel ist forschend und klangorientiert. Damit reiht sich Annie Bloch ein in eine Bewegung junger internationaler Organistinnen wie Kali Malone, Ellen Arkbro oder Kara-Lis Coverdale, die mit unkonventionellen Stimmungen, Drones oder elektronisch informierter Klangästhetik neue künstlerische Wege auf der Königin der Instrumente beschreiten. Auch wenn diese Musik meist keinen direkten religiösen Bezug hat, muss sie zwangsweise in Kirchen stattfinden. Für Annie Bloch sind Kirchenräume, aber auch christliche Werte nicht per se auf die Religion beschränkt: „Man kann jedes christlich assoziierte Wort durch ein anderes ersetzen, zum Beispiel Barmherzigkeit oder Solidarität statt Nächstenliebe. Am Ende ist das Gleiche damit gemeint. Mich beschäftigt sehr, woher Menschen Hoffnung nehmen. Ohne Hoffnung würden sie ja nicht weitermachen. Ich finde es oft beeindruckend, wenn ich Kirchgänger*innen begegne. Sie tragen oft viel Hoffnung in sich. Ich glaube, bei mir selbst entsteht so ein Gefühl der Hoffnung, wenn ich auf Konzerte gehe – ganz egal welche – und mich beseelt fühle!“
Experimentelle Konzerte in Sakralbauten werden nicht für eine Eintrittswelle in die Kirchen sorgen. Nicht jedes neue Orgelstück wird zur Anbetung Gottes geschrieben. Ein allgemeines Bedürfnis nach Sinnstiftung wohnt uns Menschen aber inne und zeigt sich gerade in unsicheren Zeiten umso mehr. Sich mit den eigenen Fragen nicht allein zu fühlen, sondern sie im Kontext von Musik zu teilen, Gemeinschaft zu spüren und gemeinsam Widersprüche auszuhalten – darin liegt schon ein spirituelles Moment, und das kann Musik leisten. Auch und gerade in einer Stadt, so reich an Kirchen wie Köln.
Mit freundlicher Unterstützung durch: KULTUR.GEMEINSCHAFTEN - Kulturstiftung der Länder / Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien / NEUSTART KULTUR
In Kooperation mit diskursmusik.com