Einführung von Honoraruntergrenzen im Kulturbereich – Warnung vor unbeabsichtigten Schäden für die freie Szene
Positionspapier der Initiative Freie Musik IFM e.V.
// Öffentliche Förderer
- >> Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM):
- Honoraruntergrenzen in BKM-geförderten Projekten (Stand: 12. Februar 2025)
- >> Kulturministerkonferenz (KMK):
- >> Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW:
// Verbände
- >> ver.di
- >> Deutscher Kulturrat:
- Dossier Honoraruntergrenzen (Stadn 16.1.2025)
- Überblick Honorarempfehlungen (Stand 25.10.2024)
- >> Deutscher Musikrat:
- Empfehlungen zu Honoraruntergrenzen in musikalischer Bildung und an Musikhochschulen
- Empfehlung zu Honoraruntergrenzen in BKM-geförderten Projekten
- >> Deutsche Jazzunion:
- >> Unisono - Deutsche Musik- und Orchestervereinigung:
- >> Deutscher Tonkünstlerverband:
- >> FREO e.V.:
- “Ein Aufschlag”: Honorarstandards in der freien Musikszene
- PM zu den Honorarempfehlungen des Deutschen Musikrats
- >> Chor- und Ensembleleitung Deutschland:
- >> BDKV & LiveKomm:
// Artikel
- >> WDR: 55 Euro Stundenlohn: Neue Honoraruntergrenzen für Kunstschaffende
- >> Neue Musikzeitung: Prekarität trotz Staatshilfen
// Studien Soziale Situation & Absicherung von Künstler*innen und Kulturschaffenden
- >> Sachstandsbericht Soziale Sicherungssysteme für Künstler*innen in Europa (wissenschaftlicher DIenst des Deutschen Bundestags)
- >> Studie zur wirtschaftlichen ud sozialen Lage von Soloselbständigen und hybrid Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft , dem ölffentlichen Kulturbetrieb und Kulturberufen in Deutschland (Bundesverband freie Darstellende Künste und Prognos)
// Theorie Resilienz / Grundsicherung / Kunst als Arbeit
- >> Status quo ante oder transformierte Kulturförderung? - Resilienz erfordert eine verteilungsgerechtere Kulturpolitik (Kurt Eichler, bis 2017 Geschäftsführender Direktor der Kulturbetriebe Dortmund)
- >> Zwischen Reichtum und Prekariat - Welchen Wohlfahrtsstaat brauchen Künstler*nnen (Friedrich Ebert Stiftung / 2017)
- >> “Schluss mit Freiheit gegen Prekarität” (Deutscher Kulturrat / Lena Krause)
- >> Die Missgeschicke der “Künstlerkritik” und der kulturellen Beschäftigung (Mauriozio Lazzarato)
- >> On the Atypical and Precarious Forms of the Work of Freelance Artists (Maurizio Lazzarato) - Kurzfassung
- >> Intermittence du Spectacle / Grundsicherung für Kulturarbeiter*innen (ein Dossier des Österriechischen Musikrats)
- >> “Das System der Intermittence für alle verteidigen …” (Antonella Corsani)
- >> Industrien der Kreativität (Gerald Raunig)
Die Einführung von Honoraruntergrenzen im öffentlich geförderten Kulturbereich ist grundsätzlich ein begrüßenswerter Schritt. Sie signalisiert die überfällige gesellschaftliche Anerkennung künstlerischer Arbeit und zielt auf faire Vergütung. Doch wenn dieser Schritt nicht von strukturellen Anpassungen bei der Kulturförderung begleitet wird, drohen gerade in der freien Szene gegenteilige Effekte: ein Verlust an Vielfalt, ein Rückgang künstlerischer Autonomie – und paradoxerweise eine Verschärfung der Prekarität, die man eigentlich bekämpfen möchte.
Wir sehen mit wachsender Sorge, dass der aktuellen Diskussion häufig eine systemische und detaillierte Betrachtung fehlt - und ein entsprechender Einspruch aus den Verbänden bislang ausbleibt. Als Interessenvertretung warnen wir eindringlich vor den unbeabsichtigten Auswirkungen einer gut gemeinten Maßnahme, die – ohne flankierende Reformen – nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern zu einer Rückentwicklung der freien Kunst- und Kulturproduktion führen könnte. Gerade angesichts der dramatisch abgeschmolzenen Projektförderungen auf Landesebene in Nordrhein-Westfalen würde durch die jetzt vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft skizzierte Einführung von Honoraruntergrenzen irreparabler Schaden entstehen.
Hintergrund
Am 05.10.2022 legte die „Kommission für faire Vergütung für selbstständige Künstlerinnen und Künstler“ der KMK eine Honorarmatrix-Struktur zur fairen Vergütung vor. Seit Juli 2024 schreibt der Bund in einem ersten Schritt bei zu mehr als 50% bundesgeförderten Projekten eine Orientierung an verschiedenen Verbandsempfehlungen vor.
Nordrhein-Westfalen hat beschlossen, eine eigene Honorarmatrix, die auf Grundlage der Empfehlungen der KMK entwickelt wurde, ab Januar 2026 für alle landesgeförderten Projekte und Veranstaltungen in NRW verbindlich anzuwenden. Die Matrix sieht für den Musikbereich gestaffelte Mindesthonorare je nach Veranstaltungsgröße vor (z. B. 250 € bei bis zu 500 Zuschauenden, 375 € bei 500–1.500 und 500 € bei mehr als 1.500 Zuschauenden).
Zentrale Bedenken
- Verdrängungsprozesse in der freien Szene bei stagnierenden Budgets
Die Honoraruntergrenzen werden in einem kulturpolitischen Kontext und zu einem Zeitpunkt eingeführt, in dem viele Förderbudgets real sinken oder stagnieren. Auf dieser Grundlage kann durch die Einführung von Honoraruntergrenzen keine Verbesserung der Gesamtsituation erreicht werden, wenn es nicht gleichzeitig zu substanziellen Verdrängungsprozessen kommen soll. Unter anderem droht eine Benachteiligung und Verdrängung von kleineren experimentellen Formaten, Nischenphänomenen, Nachwuchsprojekten und größeren Ensembles. So wird ausgerechnet der Bereich überfordert und unter zusätzlichen Druck gesetzt, in dem künstlerische Innovation und Nischenproduktion stattfinden. - Verhinderung freiwilliger Mehrarbeit zugunsten künstlerischer Vorhaben
In Fällen, in denen die Einhaltung von Honoraruntergrenzen zu höheren Gesamtkosten führen würde, die im Rahmen der verfügbaren Förderung nicht darstellbar sind, sollte den beteiligten Projektleiter*innen und Künstler*innen die Möglichkeit eingeräumt werden können, auf Teile ihres Honorars zu verzichten, um eine Durchführung zu ermöglichen. Die Möglichkeit, über die vergütete Leistung hinaus Arbeit zu investieren, sollte durch eine Honorarregelung nicht eingeschränkt werden und stattdessen dem Ermessen der Beteiligten unterliegen. Insbesondere bei selbstinitiierten Projekten, in denen die Künstler:innen nicht “engagiert” werden, sondern häufig zugleich (Ko-)Antragsteller:innen, (Ko-)Produzent:innen und Performer:innen sind, ist die ökonomische Gestaltungsfreiheit ein wesentlicher Aspekt freier Kulturproduktion. - Heterogene Produktions- und Erwerbsmodelle
Die Erwerbsrealitäten im Musikbereich sind sehr unterschiedlich: Beispielsweise liegen die Honorare pro Auftritt In der komponierten zeitgenössischen Musik vergleichsweise hoch, in der frei improvisierten Musik hingegen deutlich niedriger – Spielhäufigkeit und Produktionsweise unterscheiden sich stark. Eine pauschale Untergrenze ignoriert diese strukturellen Unterschiede und gefährdet ausgerechnet jene prekären Bereiche, in denen kontinuierlich, aber mit sehr kleinen Budgets gearbeitet wird. - Keine Lösung des Prekaritätsproblems ohne strukturelle Reformen
Honoraruntergrenzen allein sind kein Instrument gegen strukturelle Prekarität. Sie werden diese im Gegenteil verschärfen, wenn nicht zugleich- die Kulturförderbudgets insgesamt signifikant steigen,
- der Anteil der Förderung freier Projekte und Institutionen an der gesamten Kulturförderung deutlich angehoben wird,
- tragfähige Modelle der sozialen Absicherung entwickelt werden, die den realen Arbeitsbedingungen im Kulturbereich gerecht werden. In der freien Szene sind Phasen bezahlter Arbeit, informeller Vorbereitung und “unsichtbarer” kreativer und organisatorischer Prozesse nicht klar voneinander zu trennen. Die bestehende Arbeitslosen- und Rentenversicherung greift hier nicht – eine Reform ist überfällig.
- Gefahr der Segmentierung:
Es ist kritisch zu sehen, dass sich die Debatte um Mindesthonorare fast ausschließlich auf den staatlich geförderten Kulturbereich konzentriert. Dies begünstigt eine weitere Segmentierung des Kulturbetriebs in „privilegierte“ (geförderte) und „ungeregelte“ (freie) Sphären – wobei paradoxerweise gerade der geförderte Bereich durch neue Auflagen Freiräume verliert.
Dabei ist die öffentliche Hand in der Kulturförderung nicht Auftrag- und Arbeitgeber, sondern Förderer und Ermöglicher. Ihre Aufgabe ist es, kulturelle Leistungen zu ermöglichen, die am Markt nicht entstehen würden. Wenn diese fördernde öffentliche Hand nun regulierend in die künstlerische Selbstorganisation und ihre ökonomische Gestaltungsfreiheit eingreift, ohne zugleich ihre Ermöglichungskraft und künstlerische Freiräume zu stärken, beschneidet sie ungewollt die Vielfalt, Selbstbestimmtheit und Wirkmöglichkeiten genau jener freien Produktion, die sie schützen will. - Drohende Verschärfung
Die aktuell vorgeschlagenen Honoraruntergrenzen liegen – wie u. a. der Deutsche Musikrat, FREO (Freie Ensembles und Orchester in Deutschland e.V.) und andere Verbände feststellen – deutlich unterhalb dessen, was für eine existenzsichernde Tätigkeit im künstlerischen Bereich notwendig wäre. Sollte der gesetzte Anspruch also ernst genommen und diese Untergrenzen künftig schrittweise angehoben werden, ohne dass die Kulturbudgets entsprechend aufgestockt werden, wird sich das hier beschriebene Problem der Überforderung kleiner Träger und Veranstalter, größerer Ensembles und selbstinitiierter Formate weiter verschärfen.
- Verschärfung der Eigenanteilsproblematik Bei Einführung von Honoraruntergrenzen und wachsenden Gesamtkosten von Projekten und Aufführungen werden auch die absoluten Summen der zur Antragstellung nachzuweisenden Eigen- oder Drittmittelanteile wachsen. Hier sollte gegengesteuert werden, damit Projektanträge nicht an unerfüllbaren Forderungen nach Eigen- oder Drittmittelanteilen scheitern.
Forderungen
- Erhöhung der Förderbudgets und soziale Reformen
Die Einführung von Honoraruntergrenzen muss Teil eines größeren kulturpolitischen Reformpakets sein, das auch die strukturelle Unterfinanzierung, die Lücken im Sozialsystem und die prekären Bedingungen freier künstlerischer Arbeit adressiert. - Aufschub der Einführung und Beschränkung des Geltungsbereichs Die Einführung der Honoraruntergrenzen auf Landesebene sollte angesichts der finanzielen Situation verschoben und dann im ersten Einführungsschritt nur für Vorhaben vorgeschrieben werden, die zu mehr als 50% vom Land NRW gefördert werden.
- Aufschub auf kommunaler Ebene Auf städtischer Ebene sollte die Stadt Köln von einer Einführung absehen bis die Förderbudgets der Stadt und des Landes entsprechend aufgestockt werden können. Selbst dann sind einige der hier benannten Ausnahmeregelungen und Flexibilisierungen weiterhin sinnvoll.
- Bessere Vergütung von Spitzenakteur:innen und Vermeidung des „Deckel-Effekts“ Es muss verhindert werden, dass Honoraruntergrenzen faktisch zu Honorarobergrenzen werden. Erste Priorität sollte daher die Verbesserung der Vergütung von etablierten Spitzenkünstler:innen und -ensembles haben, deren Honorare aktuell unterhalb des existenzsichernden Minimums liegen – ohne allerdings den generellen Handlungsbedarf in allen Bereichen in Frage zu stellen.
- Ausnahmeregelungen für kleine Projekte Für Projekte mit geringer Reichweite oder niedrigem Budget braucht es explizite Ausnahmeregelungen, um ihre Durchführbarkeit zu sichern.
- Freiwilligkeit bei selbst-initiierten Projekten Selbstbeauftragte Künstler:innen und Produzent:innen sollten bei geförderten Projekten, in denen sie organisatorisch oder künstlerisch (mit-)verantwortlich sind, die Möglichkeit haben, freiwillig für Honorare unterhalb der Honoraruntergrenze zu arbeiten, vorausgesetzt:
-
- die Reduktion des eigenen Honorars ist entscheidend dafür, dass das Projekt durchgeführt werden kann.
- die entsprechenden Honorarreduktionen werden auf freiwilliger Basis und mit expliziter Billigung der Betroffenen durchgeführt und transparent dokumentiert.
In jedem Fall muss individuelle Rücksprache gehalten werden, um Missbrauch dieser Regelung zu vermeiden. Die Regelung darf nicht generell dazu führen, dass Projekte von Künstler*innen oder Produzent*innen, die hinsichtlich der eigenen Existenzsicherung nicht auf Mindesthonorare angewiesen sind, Projekte aus der Förderung verdrängen, deren Mitwirkende auf Mindesthonorare angewiesen sind.
- Differenzierung nach Ensemblegröße und Format Anstelle pauschaler Sätze braucht es differenzierte Modelle, die sowohl Ensemblegröße und Produktionsform als auch den Arbeitsumfang angemessen berücksichtigen - ohne allerdings in Beantragung und Verwendungsnachweisprüfung zusätzliche bürokratische Aufwände und Nachweispflichten zu erzeugen.
- Verstärkte Strukturförderung Für Ensembles, Festivals und Spielstätten sollte eine nachhaltige und mehrjährig ausgelegte Strukturkostenförderung eingerichtet werden, die nicht zwingend an die Einhaltung von Honoraruntergrenzen geknüpft ist. Eine den Anforderungen an eine eigenständige soziale Absicherung und Altersvorsorge entsprechende Anhebung des Gagenniveaus erfordert eine grundsätzlich bessere finanzielle Ausstattung nicht nur von Förderinstrumenten, sondern gerade auch von wesentlichen Arbeitgeber*innen wie Ensembles, Spielstätten, Konzertreihen und Festivals, die ohnehin unter immer stärkerem finanziellen Druck stehen.
- Anpassung der Eigenanteilregelung Verpflichtende Eigenanteile an Projektfinanzierungen müssen reduziert oder ganz gestrichen werden, um in Anbetracht steigender Projektkosten, um nicht zu unrealistischen Forderungen zu werden. Alternativ sollte ehrenamtliche Arbeitszeit als Eigenanteil angerechnet werden können.
Fazit
Honorarmindeststandards sind ein wichtiger Schritt – aber kein Allheilmittel. Ohne umfassende politische Nachsteuerung drohen ausgerechnet jene Strukturen beschädigt zu werden, die in den letzten Jahrzehnten für Vielfalt, Innovation und selbstbestimmte Produktion im Kulturbereich gesorgt haben. Es ist höchste Zeit, dass diese Aspekte in der kulturpolitischen Debatte und der Ausgestaltung der Einführung von Honoraruntergrenzen nicht länger ausgeblendet, sondern wesentlich stärker berücksichtigt werden.