von Andreas Gilger

Eine kurze Geschichte der Claviere

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19. Oktober 2022
Autor:Innnen: Andreas Gilger

Die ersten Tasteninstrumente des Abendlandes waren eigentlich keine Tasteninstrumente. Die Orgel wurde zwar bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland als Tasteninstrument erfunden, doch zu Beginn ihrer Karriere im Westen war sie nicht mit Tasten ausgestattet. Stattdessen mussten etwa ab dem 6. Jahrhundert die Schleifen per Hand gezogen und wieder abgestoßen werden. Warum es zu diesem technischen Rückschritt kam, ist nicht ganz geklärt, doch trotz ihrer beschwerlichen Spielbarkeit waren Orgeln als Importware aus dem byzantinischen Reich so teuer, dass sie Königshöfen vorbehalten waren.
Nicht nur aufgrund der hohen Preise dauerte es lange, bis die Orgel in den religiösen Kontext einzog. Erst im Jahre 812 fand sie ihren Weg in die Kirche, wo Instrumente bis dato strikt abgelehnt worden waren. Wie genau Orgeln in diesem frühen sakralen Kontext verwendet wurden, ist mangels Quellen ungewiss, doch dienten sie wahrscheinlich zur Unterstützung von Chorälen.
Bis zum ersten Zeugnis eigenständiger Orgelmusik würde es noch lange dauern, trotz der (Wieder-?)Erfindung der Tastatur im 13. Jahrhundert. Die erste Sammlung, die ausschließlich originäre Stücke für Tasteninstrumente enthält, ist die Tabulatur des Adam Ileborgh (1448). Trotz vereinzelter, in früheren Manuskripten erhaltener Stücke und der hohen Wahrscheinlichkeit, dass auf Clavieren bereits lange vorher solistisch improvisiert wurde, fällt auf, dass sich dieses Dokument in eine ganze Reihe von Zeugnissen von der Etablierung von Tasteninstrumenten einfügt: Das Clavicytherium wird ab 1360 regelmäßig erwähnt, es gibt 1419 Hinweise auf italienische Cembalobauer, Henri Arnaut de Zwolle verfasst 1440 Beschreibungen und Zeichnungen verschiedener Claviere, und von 1470 ist schließlich das älteste bekannte Kielklavier in Form eines Clavicytheriums erhalten.
Aber neben den Instrumenten entwickelte sich auch die Vokalmusik, zu deren Unterstützung sie vornehmlich dienten. Mit der Beförderung der Terz zur Konsonanz und der daraus resultierenden Musik stiegen auch die Herausforderungen an Tasteninstrumente. Tastaturen mussten an immer kompliziertere Griffe angepasst werden, und das Problem der Stimmung bereitete Generationen von Musikern Kopfschmerzen.

Das Clavier entwickelt sich

Wer nämlich reine Terzen haben möchte, erhält keine reinen Quinten, und wer entweder eine Reihe reiner Terzen oder Quinten haben möchte, erreicht nie eine reine Oktave zum Ausgangston. Wer reine Quinten zugunsten reiner Terzen, und eine ununterbrochene Reihe reiner Intervalle zugunsten einer reinen Oktave opfert, muss außerdem auf etliche Intervalle innerhalb der Reihe verzichten. Das sind unumstößliche physikalische Gesetze.
Doch die menschliche Kreativität fand Lösungen. 1555 kulminierte der Erfindergeist des Instrumentenbaus in Nicola Vicentinos Archicembalo, das mit 31 Tönen pro Oktave einen quasi vollständigen Quintenzirkel mit einer minimal größer als reinen und 30 mitteltönigen Quinten abdeckt. Solche Instrumente wären zwar nötig, um die hochchromatische Vokalmusik z.B. von Carlo Gesualdo, Nicola Vicentino oder Michelangelo Rossi akkurat zu begleiten, doch sowohl an den Konstrukteur als auch den Spieler stellen sie enorme Anforderungen.
Daher überrascht es nicht, dass die meisten Claviere mit Subsemitonien sich auf deutlich weniger Töne pro Oktave beschränkten. So ist Musik für Instrumente mit 19 Tönen pro Oktave z. B. von Ascanio Mayone, Giovanni Maria Trabaci, und Gianpietro del Buono überliefert. Auch Michelangelo Rossi hinterließ Musik für Claviere mit geteilten Tasten. Seine Toccata Settima ist für ihre kühne Harmonik berühmt, die in einer chromatisch aufsteigenden Skala aus großen Terzen mündet.
Leider blieben nur wenige dieser Instrumente erhalten, da sie im Laufe der Zeit zu gewöhnlichen chromatischen Instrumenten umgebaut wurden - die mitteltönige Stimmung verlor gegen Ende des 17. Jahrhundert allmählich an Bedeutung, und der mit geteilten Tasten verbundene Aufwand stand offenbar nicht in einem gesunden Verhältnis zu ihren klanglichen Vorteilen. Andreas Werckmeister tut Instrumente mit Subsemitonien 1698 als „Flick- und Stückwerk“ ab, und Johann Mattheson urteilt 1713, Subsemitonien hätten „keine rechte Art / weder im Stimmen noch im Spielen“.

Exotische Tasteninstrumente waren sehr beliebt

Weitaus wohlwollender wurden „exotische“ Instrumente wie z. B. das Lautenwerk und das Geigenwerk aufgenommen. Während das Lautenwerk quasi ein Cembalo mit Darmsaiten ist, verfügt das Geigenwerk über eine ganz andere Art der Tonerzeugung: Die Saiten werden mit Haken an die mit Kolophonium überzogenen Ränder mehrere Räder gezogen, die mittels eines Trittbretts in Rotation versetzt werden. Michael Praetorius äußerte sich 1620 begeistert über Geigenwerke und listet buchstäblich die Vorteile auf, die sie gegenüber anderen Clavieren haben. Leider ist trotzeiniger überlebender Originale keine Literatur für Geigenwerke erhalten, und so scheint es eher ein Kuriosum, auf dem man Arrangements spielte, als ein verbreitetes Instrument mit eigenem Repertoire gewesen zu sein.
Ähnlich verhält es sich mit dem Lautenwerk, von dem keine Originale erhalten sind, das aber in verschiedenen Quellen Erwähnung findet. Im Nachlass Johann Sebastian Bachs sind gleich zwei Lautenwerke aufgeführt. Doch auch im Falle Bachs, der nachweislich Lautenwerke besaß, ist kein Repertoire zweifelsfrei zuzuordnen. Einzig die Suite BWV 996 trägt in einer Abschrift von Johann Gottfried Walther den Zusatz von unbekannter Hand „aufs Lauten Werk“. Die Unsicherheit darüber, wie genau das Lautenwerk ausgesehen hat, wie es beschaffen war und wie es geklungen hat, macht zweifelsfreie Aussagen sowohl über die Eignung einzelner Werke fürs Lautenwerk als auch sein mögliches Einsatzgebiet unmöglich.

Das Clavichord: laute Befürworter trotz leisen Klangs

Viel deutlicher ist die Frage nach dem Einsatz des Clavichords zu beantworten. Sein leiser Klang macht das Zuhören ab einer schnell erreichten Publikums- und Raumgröße schwierig, was das Clavichord an häusliche Umgebungen fesselt. Um es dennoch öffentlich präsentieren zu können, werden Clavichordkonzerte heutzutage oft elektrisch verstärkt. Das hat das Clavichord nicht daran gehindert, eine beachtliche Popularität zu erlangen: Praetorius lobt es als ideales und praktisches Lerninstrument, Mattheson bezeichnet es als das beste Instrument für „Hand und Galanterie-Sachen“, und Charles Burney berichtet von einem Besuch bei Carl Philipp Emanuel Bach, bei dem Bach ihm ein bis in die Nacht dauerndes Privatkonzert auf seinem Silbermann-Clavichord, seinem Lieblingsinstrument, gestattete. So beliebt das Clavichord aber auch war, es kam in seiner Verbreitung nie an das Cembalo und seine verschiedenen Bauformen heran.

„Das perfekteste aller Instrumente“

Von der häuslichen Umgebung über die Kirche bis zum Hof gab es kein Umfeld, in dem das Cembalo nicht gebraucht wurde. Prinzessinnen wurden auf ihm unterrichtet, in J. S. Bachs Nachlass sind ganze fünf Cembali aufgelistet, und Jean Denis nennt es das perfekteste aller Instrumente. Neben seiner Funktion als Soloinstrument ist das Cembalo außerdem Kerninstrument der barocken und frühklassischen Ensemblemusik. Mattheson und C.P. E. Bach sind sich einig, dass Cembali als Continuoinstrumente zu Hause, im Theater und in der Kirche unentbehrlich sind.
Bei der Beschaffenheit der Instrumente waren der Fantasie keine Grenzen gerichtet. Ob ein dreimanualiges Instrument mit fünf Registern von Hieronymus Albrecht Hass oder ein Oktavvirginal, das man unter einem Arm tragen kann, ob ein konventionelles einmanualiges italienisches Cembalo des frühen 18. Jahrhundert oder ein Instrument mit zwei um eine Quarte versetzten Manualen aus der Werkstatt Ioannes Ruckers, ob reich vergoldet oder schlicht bemalt – für jeden Zweck, jeden Geschmack und jedes Budget gab es das passende Kielklavier. Und diese Popularität hielt lange an: Gioachino Rossini lernte als Zehnjähriger das Clavierspielen auf einem Cembalo. Auch wenn die letzten hauptamtlichen Cembalowerkstätten Anfang des 19. Jahrhundert schlossen, wurden noch in den 1850ern vereinzelt Cembali gebaut. Doch während man in Frankreich, wo man im frühen 17. Jahrhundert den ersten originären Stil des Cembalospielens erfand, bis kurz vor Anbruch des 19. Jahrhunderts noch verbissen am Cembalo festhielt, war im Rest Europas der Siegeszug des Hammerklaviers schon längst abgeschlossen.

Das Pianoforte erobert Europa

Der hatte auf sich warten lassen – bereits im Jahre 1700 hatte Bartolomeo Cristofori das Hammerklavier erfunden. Allerdings hinderten hohe Preise und begrenzte Dynamik das frühe Pianoforte daran, sich durchzusetzen. Stattdessen war es Gottfried Silbermann, der, auf Cristoforis Erfindung aufbauend (die Mechanik kopierte Silbermann nahezu unverändert, fügte sie aber in einen sehr anders konstruierten Korpus ein) dem Hammerklavier zu größerer Dynamik und damit zu seinem Durchbruch verhalf. Anfangs hatte das Hammerklavier durchaus zu kämpfen, so verbreitet war noch das Cembalo. In ihrer Erstausgabe ist z. B. Beethovens Pathétique noch als „Pour le Clavecin ou Piano-Forte“ angegeben, so kaufstark war die Klientel, die um 1800 noch ein Cembalo statt eines Pianofortes besaß. Wer sich aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Hammerklavier kaufen wollte, konnte aus einem beachtlichen Angebot wählen. Etwa alle fünf Jahre gab es in dieser Zeit Innovationen im Klavierbau, bis mit Sébastien Érards Erfindung des „Double Échappement“ 1821 (einer Mechanik, die schnelleres Repetieren ermöglichte) die größten mechanischen Entwicklungen abgeschlossen waren.
Die Musik nutzte diese Neuerungen stets voll aus: Parallel zur Entwicklung des Instrumentes weitete sich der Ambitus der Musik, der Gebrauch des Pedals (ursprünglich als von Hand zu betätigender Hebel) wurde zunehmend präzisiert, musikalische Phrasen wuchsen mit dem immer länger anhaltenden Ton der sich entwickelnden Klaviere, und die Klanglichkeit des Repertoires expandierte dank der technischen Entwicklungen, die es dem Instrument erlaubten, sich gegen immer größere Ensembles durchzusetzen. In den 1870ern erhielt das Hammerklavier schließlich die Form, die es bis heute weitgehend behalten hat.
Seine Vielseitigkeit hat dem Klavier seitdem geholfen, auch in Zeiten sich immer rasanter ändernder Vorlieben und Stile aktuell zu bleiben. Dabei erfuhr es trotz technischer Stagnation stets neue Arten, Klang zu erzeugen, sei es durch perkussiven Umgang mit seinen Bauteilen, elektronische Manipulation, usw.. Dieselben neuen Spieltechniken werden aber auch zunehmend bei anderen Tasteninstrumenten angewendet. Und so ist – dank des Erfindungsreichtums und der Experimentierfreudigkeit des Menschen – garantiert, dass Tasteninstrumente sich auch weiterhin universeller Beliebtheit erfreuen werden und dass ihre Musik sich ständig weiterentwickeln wird.

 

aus „Musik & Kirche“ 5/2022, Bärenreiter Verlag
Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Verlags

 

Als Cembalist und Organist ist Andreas Gilger auf CD-Aufnahmen und Konzertbühnen auf der ganzen Welt zu hören. Von 2016-2021 war er Lektor für Cembalo, Generalbass und Korrepetition am Mozarteum Salzburg. Neben seiner musikalischen Tätigkeit ist Andreas Gilger als Mitglied des Dutch Historical Acting Collectives aktiv, das sich die praktische Erschließung historischer Quellen rund um das Thema Rhetorik und Schauspiel zum Ziel gesetzt hat. Außerdem ist er als professioneller Sprecher tätig. Seit seinem Studium an der Musikhochschule Köln ist er fest in der Kölner Musikszene verankert - das nächste Mal ist er im Ventana Köln am 26.10.22 im Duo mit der Cembalistin Flóra Fábri zu hören. Auf dem Programm stehen Partimenti von Bernardo Pasquini. Mehr Informationen zu diesem Konzert finden Sie auf https://2024.musik-in-koeln.de/de_DE/kalender/zamus-unlimited.17468030 .

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