Diversität

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02. Januar 2024

DEKOLONIALES HÖREN?

 

Von Swantje Lichtenstein

 

Wer Köln im Ohr hat, hört Karneval, Kirchen und ein paar brummende Sender. Wer Köln im Ohr hat, weiß, dass Köln an verschiedenen Stellen ziemlich unterschiedlich klingen kann. Marienburg klingt anders als Bocklemünd und Chorweiler klingt anders als Kalk oder die Altstadt. Die Philharmonie klingt nicht wie der Stadtgarten oder St. Peter oder welchen Ort auch immer man hier einsetzen mag.

Köln versteht sich in seiner musikalischen Tradition als innovativ, vielseitig und Gründungsort für elektronische Musik, dabei wird selbstverständlich vorausgesetzt, dass es um eine kanonische Weiterschreibung eines Weißen (1), patriarchal geprägten Diskurses geht und sicher nicht um eine aktive oder gar aktivistische Umschreibung einer dekolonialen Musik, die Unterdrückungssysteme in Frage stellt. Auch die Neue Musik setzte am Dispositiv der europäische, westlichen Musiktradition an. Sie  behielt diese als Referenz und den Rahmen der Vermittlung im Bildungskontext und im Hochschulwesen. Westliche Musiktheorie und -geschichte besitzen immer noch weltweit eine Deutungshoheit – andere Perspektiven und Lehren werden auch auf außereuropäischen Kontinenten kaum bis gar nicht gelehrt.

Nur wenige wundern sich darüber, dass Studierende aus Asien die europäischen Musiktraditionen deutlich häufiger von klein auf professionell vermittelt bekommen, wohingegen die Kenntnis außereuropäischer Musiktraditionen immer noch eher selten vorkommen und in ihrer Andersheit gepriesen werden und herausgestellt werden - dabei ist Europa der kleinste Kontinent. Die Differenz in Tonalität, Musiktradition, Komposition und Harmonielehren wird bemerkt, verändert aber noch nicht viel an den Lehrplänen in Schulen oder Hochschulen in Europa oder den Amerikas.

Überall Rauschen, Klänge und Musik. Was wir hören, wie wir hören ist geprägt durch das, was wir kennen, nicht kennen, ignorieren oder präferieren. Was schräg oder seltsam klingt, wird als experimentell oder fremd bezeichnet. Was sich an westliche Harmoniesysteme anlehnt, klingt eingängig, nicht westliche Harmonien klingen bestenfalls „interessant“, je nach Grad der Ignoranz werden sie gerne auch als „exotisch“ oder „anders“, „wild“ etc. bezeichnet.  

Viele nichteuropäische Tonsysteme haben gar keine „richtige“ oder „falsche Art“ und auch keine genaue Bestimmung der Töne. Das diatonisch-chromatisch-enharmonische Tonsystem der westlichen Welt wird  trotzdem immer noch gerne als Maßstab genutzt.

Selbst langjährige Ausbildungen in Ländern außerhalb Europas in der musikalischen Welt werden nicht zwangsläufig als gleichwertig anerkannt v.a. im Ausbildungsbereich oder im Bereich der sognannten klassischen Musik, womit auch oft genug lediglich die Musik der Klassik in Europa gemeint ist und nicht die langjährigen Traditionen auf den afrikanischen oder asiatischen Kontinenten. 

Es war für mich überraschend zu lernen, dass es in vielen musikalischen Traditionen weder „richtig oder falsche“ Töne gibt, dass Musik entsteht und das menschliche Miteinander dazu beiträgt, dass sie sich entwickelt und „klassisch“ wird und nicht, weil sich einige Personen oder Teile der Welt über andere systematisch erheben und dies aufschreiben und tradieren. 

Selbst die europäischen Traditionen der Tonsysteme waren allerdings deutlich vielstimmiger und zeigen für mich insbesondere, da ich deutlich besser höre als sehe, in einem ganz sehr deutlichen Maße, wie wenig  dekolonialisiert wir in vielen Teilen sind. Es zeigt sich in der Programmierung von Software und elektronischen Instrumenten und in der Ausbildung. Es zeigt sich bei Hereinnahmen von dekolonialen Mustern, eher eine Art „Tokenism (2), die langsam an anderen Stellen, auch in den Künsten  wahrnehmen dürfen.  D.h. eine „bunte Vielfalt“  wird gerne gesehen, da sie Abwechslung zeigt, Neues bringt, aber eben noch lange nicht in Machtpositionen angekommen ist. 

Da Musik allerdings einen globalen Markt bedient, geht es insbesondere um Umsatz. Die digitale Welt des Verkaufs macht auch deutlich, wie stark die Kontrolle von Unternehmen wie Google, Youtube, Apple oder Spotify ist. Sie versuchen, unsere Verkaufsmuster zu erkennen. Deshalb gelangt auch mehr Musik aus anderen Teilen der Welt in unsere Spotify-Playlist, wenn wir beginnen sie zu hören. (3)

Wenn man beim Dekolonisieren der Musik mitwirken will kann es helfen, nicht erneut bei „den Anderen“ anzusetzen, sondern bei sich selbst. Die Reflexion über das dekoloniale Hören fängt dort an, wo ich selbst, mit meinem (somatischen) Bewusstsein höre und dort, wo ich versuche daran mitzuwirken, Systeme, selbst tonale, zu hinterfragen und zu erkennen, dass jedes System auch zu einem Unterdrückungssystem werden kann. 

Kolonien sind auch zunächst Unterdrückungssysteme und selbstredend sind daraufhin bestimmte Zusammenarbeiten, Verbindungen in den Musiktraditionen entstanden und Forschungsgebiete wie die Musikethnologie oder Biomusikalogie, die ein erhebliches Maß an Wissen und Zusammenarbeit in vielen Feldern generiert haben und weiterhin dazu beitragen und dennoch sind wir erst am Anfang der Dekolonialisierung.

Als produzierende und rezipierende Künstlerin und als Person, die Kunst und Musik vermittelt und damit auch Wissen reproduziert und dadurch in einer Position ist, vorzumachen, wie eine veränderte Einstellung einen Schritt im aktiven Prozesse der Dekolonialität gehen könnte, begann ich zunächst damit selbst herauszufinden, wo ich mich befinde, wo die Dekolonialisierung sich befindet und wie das alles zusammenkommen könnte.

Wenn „Kolonialisierung ein Investment in eine singuläre und stimmige Ordnung [ist] (4), geht es bei der Dekolonialisierung darum, von dieser Ordnung zu einer Unordnung zu kommen“, wie Frantz Fanon  es schon in den 1950er Jahren formuliert hatte. 

Dieser Prozess der Unordnung kommt allerdings weder durch Zauberei oder durch ein sanftes Wachsen zustande, sondern einen bewussten, aktiven Prozess, der immer irgendwo beginnen muss und zwar nicht bei den anderen, sondern bei mir selbst und der gegebenenfalls, wenn es jemand gerne geordnet hat, sich auch sehr unangenehm anfühlen kann.(5)  Auch beim Hören. Auch in Köln. 

Dekolonialisierung besteht im kritischen Blick auf Denkmuster und Kategorien, eine koloniale Geschichte des Wissens, der Strukturen und damit auch Notationssysteme, Harmonielehre und Kompositionstheorien.

Ich höre viel. Ich höre auch dazwischen. Ich höre in Köln immer wieder von Unterdrückungssystemen in der Musik. Es geht dabei vor allem um die Musiken, die im Diskurs, in Bildungssystemen, in Konzerthäusern und anderen Institutionen Raum und Aufmerksamkeit finden. In der Musik spiegeln sich Symptome und Ideen, die gesamtgesellschaftliche Problematiken darstellen. 

Musikethnologie beispielsweise ist ein Fach, das historisch aus einer Weißen, europäischen Perspektive entstammt. Bedenklicher ist es, dass dieses Fach in Köln von einem Professor vermittelt wird, der Mitglied einer rechtsextremen Partei ist und sich unmissverständlich weiterhin dafür einsetzt, Existenz und  Fortbestand einer europäischen oder gar deutschen Leitkultur zu bewahren und deutlich zu machen, dass Differenzen und Distinktion des musikalischen Geschmacks vorhanden sind. Aber nicht um diese intentional anzuerkennen, sondern als ein Argument für eine Hierarchisierung zu benutzen, die deutlich zu machen versucht, dass die deutsche oder zumindest europäische Kultur überlegen und leitend sei. (6)  So wird Wissen implementiert von Personen, die die Macht haben, andere zu bewerten, dass jemand ggf. als gar nicht so gefährlich empfindet, weil die Person weiß, wo sie steht, dennoch ist es nicht so leicht zu ändern. Da die Menschen in Machtpositionen deutlich besser geschützt sind als die, die weniger Macht haben. 

Ein anderes Beispiel wäre, dass die Hierarchisierungen in den musikalischen Traditionen nicht nur an Instrumente oder musikalische Folklore gebunden sind, nicht nur in an die Unterscheidung zwischen Hochkultur, Popkultur oder E- und U-Musik, sondern dass sich diese in der Selbstverständlichkeit harmonischer Systematiken, Strukturen und Codierungen wiederfinden lassen. Sowohl in den Tonsytemen als auch in der Software.

Der Musiker und Wissenschaftler Khyam Allami erarbeitete nach der Infragestellung der Orientierung elektronischer Instrumente und Software in der Musikproduktion an westlichen Harmoniesystemen ein eigenes Programm „Apotome“, das zudem kostenlos verfügbar ist, um daran etwas zu verändern. (7) Musik, die anderen Harmoniesystemen entstammt, wurde einfach nicht berücksichtigt und hatte Schwierigkeiten produktiv zu werden mit Synthesizern und Software, die nicht darauf eingestimmt waren, er beschreibt es anhand dieses Beispiels:

[...]die Erfahrung des kenianischen Produzenten Slikback, einer der Musiker, die Apotome getestet haben [war] „Ich finde, Ableton drängt mich dazu dem Beat Grid zu folgen [...] Alles klingt irgendwie westlich  - sehr mechanisch, nicht organisch wie die rauhen Töne und rohen Trommeln, mit denen ich in Nairobi aufgewachsen bin. (8)

Natürlich hielten sich auch das Studio für elektronische Musik in Köln und die experimentellen Musiken aus Köln für eine globale Angelegenheit. Und tatsächlich hatte Köln in der Nachkriegszeit versucht neu anzusetzen, so zu tun, als ob die künstlerische und musikalische Arbeit bei Null ansetze, mit einem weißen Blatt und dabei jedoch übersehen, dass die geschichtlich älteren rassistischen und sexistischen Unterdrückungssysteme natürlich nicht vorbei waren, zumal die Traditonen noch weiter zurückreichten. 

Dies geriet aus dem Fokus, was sicher aus damaliger Sicht nachvollziehbar war, jedoch den kommenden Generationen dummerweise einen noch größeren Ballast hinterlassen hat, der erst langsam in den Blick gerät. 

Wir sind leider noch nicht an dem Punkt. Wir sind gerade mal dabei zu erkennen, was kulturelle Appropriation ist, was wir damit zu tun haben, wo wir beginnen könne unsere Privilegien eigenständig zu hinterfragen und freiwillig umzudenken, abzugeben und nicht nur selbst von der Andersheit und Fremdheit zu profitieren, denn:

Kulturelle Appropriation ist ja nicht an einem Tag im 21. Jahrhundert in Brooklyn entstanden, vielmehr sind die zeitgenössischen Hipster die neueste Variation einer uralten kulturellen Tradition. Die bestimmenden Elemente von hip – Kleidung, Haltung, Musik, Insiderwissen – lassen sich auf die Atlantische Sklaverei zurückführen und das zentrale Faktum, dass die moderne Kultur, wie wir sie kennen der Afrikanischen Diaspora ziemlich viel schuldet und verdankt. (9) 

Das gilt insbesondere auch für zeitgenössische Neue Musik und elektronische Musik und es gilt eine Reihe von Forschungsarbeiten zu diesem Thema anzuregen, Verantwortlichkeiten in der Vermittlung, der Universität, den Institutionen neu zu besetzen und die alteingesessenen Perspektiven und Privilegien tatsächlich hinter sich zu lassen und Dekolonalisierung nicht nur als ein Projekt für die anderen oder zwischendurch zu deklarieren. 


Hören tun wir jeden Tag und beim Hören lässt sich eine dekoloniale Position einnehmen und zugeben, dass wir ziemlich viel nicht wissen, nicht kennen und selbst als Professionelle noch eine ganze Menge Arbeit vor uns haben und viel zu lernen. Hören wir also gut hin. Hier und heute.

 

(1) Die Großschreibung der Worte “Weiß” und “Schwarz” zeigt an, dass die Worte zur Beschreibung von „Hautfarben“ selbst rassistische Konstruktionen sind.

(2) Vgl. Lemma “Tokenism” im Rolling Eyes Glossar: https://soz-kult.hs-duesseldorf.de/personen/lichtenstein/Documents/ROLLING%20EYES%20GLOSSAR.pdf

(3) Während ich das schreibe, möchte Microsoft die ganze Zeit gerne „Dekolonialität“ zu „Kolonialität“ ändern.

(4) Salomé Vogelin: Uncurating Sound. Knowledge with Voice and Hands, London 2023, XI 

(5) Frantz Fanon, The Wretched of the Earth, New York 1968, p. 35.

(6) Vgl. Hans Nuehoff: Wandlungsprozesse elitärer und populärer Geschmackskultur? Die „Allesfresser-Hypothese“ im Ländervergleich USA/Deutschland, in: KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 53, 2001, S.751–772.

(7) https://isartum.net/apotome

(8)  https://pitchfork.com/thepitch/decolonizing-electronic-music-starts-with-its-software/

(9) Grégory Pierrot: Decolonize Hipsters, New York/London 2022, 53.

 

 

 

 

 

 

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